"Ich verstehe jeden, der sich der Realität verweigert
[...] Wir trösten uns mit der geringen Wahrscheinlichkeit eines größten anzunehmenden Unfalls. Und nehmen beruhigt zur Kenntnis, dass die Chance, bei einem Autounfall ums Leben zu kommen, viel größer ist als die, bei einem Terroranschlag getötet zu werden.
Foto: dpa
Eine Rettungsdecke und Verbandmaterial liegen auf dem Boden eines Regionalzugs bei Würzburg. Hier hatte ein Flüchtling* Mitte Juli mehrere Reisende mit einer Axt attackiert
Diesen Satz haben wir in den letzten Tagen öfter gehört als ein Ministrant das Vaterunser. Er ist sicher richtig – außer für diejenigen, die sich zur falschen Zeit am falschen Ort aufgehalten haben. An der Strandpromenade von Nizza oder in einem Regionalzug bei Würzburg.
"Negation der Realität
Wenn man im Dritten Reich kein Jude, kein Kommunist, kein Zigeuner, weder schwul noch behindert war und immer brav mit "Heil Hitler" grüßte, war das Risiko, sich beim Kaffeekochen die Finger zu verbrühen, sicher größer, als das, in ein KZ einquartiert zu werden. Und diejenigen, die es doch erwischte, dachten, der liebe Gott oder wenigstens das Rote Kreuz würde ihnen zu Hilfe kommen.
Nicht das Prinzip Hoffnung bestimmt das menschliche Verhalten, sondern die Negation der Realität zugunsten einer Fiktion. Im Witz ist es der Selbstmörder, der von einem Hochhaus in die Tiefe springt und auf halber Strecke feststellt: "Bis jetzt ist noch alles gut gegangen."
Im echten Leben ist es eine Kanzlerin, die angesichts des Chaos, das sie mit einer verhängnisvollen Entscheidung angerichtet hat, gar nicht anders kann, als sich an ihre Losung zu klammern: "Wir schaffen das!" Es hört sich an, als würde der Kapitän der "Titanic" kurz nach dem Zusammenstoß mit dem Eisberg rufen: "Mein Kurs war richtig! Der Eisberg hat nicht aufgepasst!"
Die hohe Schule der Realitätsumwandlung
Und da es kein Theaterstück ist, das man umschreiben und dessen Finale der Gemütslage der Zuschauer anpassen kann, muss eine Zauberformel her, die das Sinnlose mit Sinn erfüllt. Sie lautet: Wir haben es nicht mit einer Krise zu tun, sondern mit einer "Bewährungsprobe historischen Ausmaßes"; es ist also etwas Positives, das uns weiterbringt, eine Art Reifeprüfung für alle.
Und wir sollten dem Schicksal, der Vorsehung oder wem auch immer dankbar sein, dass uns eine solche "Bewährungsprobe" auferlegt wurde. Die Freude darüber, dass wir jetzt "plötzlich Menschen geschenkt" bekommen, mit denen wir "das Zusammenleben täglich neu" werden aushandeln müssen, darf durch keine Zwischenfrage getrübt werden, ob wir das überhaupt wollen. "Alle müssen sich darauf einlassen und die Veränderungen annehmen."
Quelle: http://www.welt.de/debatte/henryk-m-...erweigert.html
*"Nach der Zug-Attacke bei Würzburg konzentrieren sich die Ermittlungen auf einen 17-jährigen Flüchtling. Der Ruf nach Prävention wird lauter. Fast 70.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge leben in Deutschland.
Quelle: http://www.welt.de/politik/deutschla...e-Fakten.html"
Kommentar