Ich bitte darum, das meine Ausführungen nur als eine Hilfe angesehen werden und nicht als der Weisheit letzter Schluss. Mit den Themen Außen- und Innenballistik beschäftigen sich Wissenschaftler und Ingenieure seit mehr als 150 Jahren. Annahmen die früher mit empirischen Daten begründet wurden, sind im Laufe der Jahre mit Hilfe ständig verbesserter Mess-, Berechnungs- und Testverfahren widerlegt oder verbessert worden. Viele altbekannte Vorgänge in Ballistik und Waffentechnik werden heute immer noch auf wissenschaftlicher Basis weiter untersucht, da viele Vorgänge zwar für den einfachen Interessierten Laien ausreichend genug beschrieben sind, aber immer noch genug Fragen offen sind, die selbst Experten auf diesem Gebiet noch lange Jahre weiterbeschäftigen. Deshalb muss ein deutlicher Trennstrich zwischen dem gezogen werden, was auf der einen Seite in den Bereich der Mythen und Stammtischparolen gehört und dem was in den Bereich der wissenschaftlichen Arbeit fällt. Natürlich müssen aber auch selbstgemachte Erfahrungen, die entweder Zufallsprodukte oder das Produkt einer einigermaßen sorgfältigen Arbeit von Hobbyballistikern sind genauer betrachtet und diskutiert werden. Wie man in einigen Threads schon lesen konnte, wurden bereits etliche Thesen zu diesem Thema aufgestellt und rigoros verteidigt, aber zu wenige dieser Thesen basieren auf nachvollziehbaren Fakten. Wenn man seinen Horizont erweitern will, muss man aber auch dazu bereit sein, über seinen eigenen Tellerrand hinweg zu schauen.
Deshalb erhoffe ich mir von diesem Thread, das dieser sachlich diskutiert wird und nicht wieder in wüsten Beschimpfungen ausartet. Die in diesem Thread dargestellten Grundlagen sollen zum Nachdenken und Verstehen anregen. Ernstgemeinte Fragen, Erklärungen und positive Kritik sind erwünscht......aber achtet bitte auf ein respektvolles Miteinander. Danke!
An dieser Stelle werden zuerst ein paar Fachbegriffe erklärt, die in dieser Grundlagensammlung genannt werden. (Auch wenn diese Begriffe vielen von uns schon bekannt sind.):
Drall
Der Drall einer Waffe hat die Aufgabe, dem Geschoss (Projektil) während des Durchganges durch den Lauf die notwendige Drehzahl zu geben.
Der Drall eines Geschosses ist die Rotation um die eigene (Längs-)Achse und dient dazu, die Fluglage des Geschosse durch Kreiselkräfte zu stabilisieren.
Drallwinkel
Der Drallwinkel am Beginn der Züge heißt „Anfangs-“ und an der Mündung „Enddrallwinkel“. Der Drallwinkel wird zwischen Laufseele und Zügen eingeschlossen.
Dralllänge
Die Dralllänge ist die Strecke, auf der das Geschoss nach Verlassen der Mündung eine volle Umdrehung ausführt (in Bezug auf Läufe mit zu- oder abnehmendem Drallwinkel). Bei Läufen mit konstantem Drall ist die Dralllänge die Strecke, die das Geschoss im Lauf zurücklegt, bei der es eine volle Umdrehung ausführt.
Nun zum eigentlichen Thema. Wie sich bei einigen Fragestellungen gezeigt hat, kommt man auf verschiedene Wege mit den Begriffen Dralllänge und Geschossgewicht in Kontakt. Sei es als Sportschütze, Waffensammler, Wiederlader usw. Ich möchte folgendes aus der Sicht des Wiederladers schreiben, da ich selbst ein Pulverjünger bin.
Wenn man mit dem Wiederladen anfängt, sollte man seine ersten, selbstgeladen Patronen streng nach Ladedatensammlungen verschiedener Geschoss- und Pulverhersteller laborieren. Das fängt meistens damit an, dass man ein Wiederladebuch (z.B. von DEVA, H&N, RUAG usw.) in die Hand nimmt und nach der gewünschten Patrone sucht. Schnell wird man fündig und ist überrascht, wie viele Laborierungen mit unterschiedlichen Pulvern und Geschossen vorgeschlagen werden. Betrachten wir nur mal die Daten der Geschosse, so fällt uns meist nur auf, dass diese sich in Namen, Gewicht und Form bzw. Art unterscheiden. Welches Geschoss nehmen wir denn jetzt?
Ganz einfach! Der Jäger, der eine jagdliche Laborierung sucht, der wird das altbekannte Teilmantelgeschoss oder ein anderes Jagdgeschoss (z.B. TIG, TUG usw.) auswählen. Der Sportschütze wird ein Scheiben- oder Militärgeschoss (z.B. Sierra Match King, FMJ-BT, Blei Wadcutter usw.) nehmen. Und dann kommt die große Frage nach dem Geschossgewicht. Der Jäger wird wohl beim grünen Abi und aus den Erfahrungen älterer Waidmänner gelernt haben, welches Geschoss und welches Geschossgewicht für ein bestimmtes Stück Wild am bestens geeignet ist. Der Sportschütze muss entscheiden, auf welche Entfernung er die Kartonscheiben penetrieren will. Und dann kommen nach die ganzen anderen außenballistischen Einflussgrößen ins Spiel, die man mit einkalkulieren muss, um aufs Siegertreppchen zu kommen. Aber Waidmann und Sportschütze haben beide dasselbe Problem: Das Geschossgewicht muss zur Dralllänge ihrer Waffen passen, damit das Geschoss nach dem Verlassen der Mündung ausreichend stabilisiert wird!
Ja, und wie bekommt man jetzt heraus, welches Geschossgewicht das richtige ist? Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten. Entweder man richtet sich nach den Empfehlungen der Waffenhersteller, welche Fabrikmunition sie empfehlen, der Geschosstyp steht ja meistens auf der Packung oder fragt den Büchsenmacher seines Vertrauens. Man kann natürlich auch den ein oder anderen Wiederlader-kollegen um Rat bitten, da diese Spezies gerne Auskunft gibt. Das Problem dabei ist aber: Wem kann ich trauen? Haben wir einen selbsternannten Experten vor uns, der Glück hat, das er noch lebt oder handelt es sich um einen erfahrenen Wiederlader, von dem man ruhig lernen darf? Etwas Restrisiko wird immer bleiben….Die Wiederlader, die alles ganz genau machen wollen, rechnen sich einfach die passende Dralllänge zum Geschoss aus oder umgekehrt. Der geeignete Drall hängt von der Geschosslänge ab, nicht vom Geschossgewicht. Da sich die Geschossgewichte einfacher merken lassen, wird in Dralllängentabellen immer das Geschossgewicht der Dralllänge gegenübergestellt. Das hat sich bei uns genauso eingebürgert wie die Maßeinheit Grain. Mit der sogenannten „Greenhill-Formel“ lässt sich die erforderliche Dralllänge recht gut abschätzen. Diese Formel gilt für Geschosse mit Bleikern und Tombakmantel. Auf metrische Maße umgerechnet sieht diese nach R. Albrecht so aus:
D=(A∙d^2)/L
Erforderlicher Drall D (in Zoll)=(A x Geschossdurchmesser zum Quadrat) durch Geschosslänge (in mm)
A=7 für Geschosse bis 7 mm Durchmesser; A=6 für Geschosse über 7 mm Durchmesser
Beispiel: 6,5 mm KS Jagdgeschoss 140 grs, d=6,7 mm, L=31 mm
Zur Stabilisierung des Geschosses erforderlicher Drall = (7∙〖6,7〗^2 )÷31=10,1 Zoll
Das Ergebnis passt gut zu den üblichen 9 bis 10 Zoll für dieses Kaliber überein. Aber zur Sicherheit ist es angebracht eine Dralllängentabelle zu Rate zu ziehen, da die Greenhill-Formel ursprünglich für dicke und ziemlich langsame Geschosse erarbeitet wurde. Für einen V0-Bereich von 800 bis 900 m/s ist die „Miller-Formel“ besser geeignet (siehe R. Albrecht). Sehr interessant ist, dass beide Formeln ohne die Geschossgeschwindigkeit, Lauflänge und ähnliche Parameter auskommen. Sehr wahrscheinlich kürzen sich diese Parameter in den ausführlichen Darstellungen der Formeln heraus. Beide Formeln eignen sich nur für die Bestimmung der Dralllänge bei Langwaffen.
Bisher wurde noch nicht auf den Einfluss der Mündungsgeschwindigkeit auf die Drallstabilisierung eingegangen. Die Anzahl der Umdrehungen, die ein Geschoss in einer Zeiteinheit um die eigene Achse ausführt, ist eine Funktion der Geschossgeschwindigkeit. V0 im m/s durch Dralllänge in m ist gleich Umdrehung s-1. Ist die Mündungsgeschwindigkeit zu niedrig, wird das Geschoss unterstabilisiert und fängt an zu taumeln. Eine höhere V0 bedeutet eine höhere Drehzahl und somit eine höhere Stabilisierung. Eine Überstabilisierung ist aber auch nicht erwünscht, da ein überstabilisiertes Geschoss mit seiner Spitze bei weiten Distanzen nicht der Flugbahn folgt, sondern seine ursprüngliche Lage beibehält. D. h., das Geschoss stellt sich immer schräger zur Flugbahnkurve. Durch eine Überstabilisierung kommt auch ein weiterer, negativer Effekt zum Tragen. Eine geringe, herstellungsbedingte Unwucht in den Geschossen führt dazu, dass sich das Geschoss um seinen Schwerpunkt dreht und nicht mehr zwangsläufig um die Formachse. Das Geschoss bewegt sich dabei um eine Art Korkenzieherbahn. Auch muss darauf geachtet werden, dass sich manche Geschosse bei zu hoher Geschwindigkeit selbst zerlegen, da bei einer Überstabilisierung die Fliehkraft zu groß wird.
Der Geschossdrall bleibt leider auch nicht die ganze Zeit konstant. Er nimmt auf der Flugbahn des Geschosses durch Reibungsverluste ständig ab. Dabei kann es passieren, dass Geschosse, die auf z.B. einer Flugstrecke von 100 m noch stabil waren, auf 200 m quer auf die Scheibe einschlagen. Dieses Phänomen tritt häufig bei abgebrochenen Ladungen auf, wo die deutlich verringerte Mündungsgeschwindigkeit noch gerade so für eine ausreichende Stabilisierung sorgt, damit das Geschoss auf eine Entfernung von 100 m noch eine ausreichende Präzision hat. Das kann man oft bei den DSB-Rittern mit ihren Ordonnanz-KK-Laborierungen beobachten.
Nun zurück zu Dralllänge vs. Geschossgewicht. Ich habe schon oft bei Schützenkollegen gesehen und meine eigenen Erfahrungen darin gemacht, dass die brauchbare Geschossgewichtbandbreite bei verschiedenen Waffen oft deutlich breiter ist, wie von Dralllängentabellen und Formeln empfohlen. Ein K31 in 7,5x55, der für 174 grs Geschosse ausgelegt ist, schießt oft auch mit 110 und 150 grs Geschossen sehr gut. Ich besitze ein Mauser 83 und ein Mauser 86 SR. Beide im Kaliber .308 Winchester und einer Dralllänge von 305 mm. Nach Dralllängentabelle für Geschossgewichte von 175 bis 180 grs geeignet. Beide Waffen schießen jedoch auch sehr gut mit 110, 150 und 168 grs Geschossen. Waffen mit einem deutlich kleineren Kaliber sind anscheinend deutlich empfindlicher was das Geschossgewicht angeht. Bestes Beispiel dafür sind Waffen im Kaliber .223 Rem. Es gibt für diese Kalibergruppe an die sieben verschiedene Dralllängen für Gewichtsbereiche von 50 bis 85 grs. Ständig liest man in den Foren (meistens von AR15-Klonbesitzern) von Problemen bei der Auswahl des Geschossgewichtes.
Abschließend möchte ich noch darauf hinweisen, dass nicht alles ganz genau berechnet werden kann und dass Tabellen oft auch nur mehr oder weniger brauchbare Richtwerte hergeben. Vieles hängt oft von einem großen Erfahrungsschatz ab. Wichtig ist doch, dass man dazu bereit ist, das für seine Waffe passende Geschoss(-gewicht) aus nachvollziehbaren Gründen auszuwählen und dessen Brauchbarkeit durch Versuche zu bestätigen. Man muss sich auch damit abfinden, dass nicht alle selbstgemachten Erfahrungen auf andere Waffen einfach übertragbar sind. Auch zwei gleiche Waffen im gleichen Kaliber können sehr unterschiedliche Ergebnisse liefern.
Ich hoffe, dass ich an dieser Stelle nichts ausgelassen habe…… Fehlendes wird ergänzt.
Interessante Literatur:
„Präzisionsschießen“ von Robert Albrecht
„Geschosse“ Band 1 und 2 von Beat P. Kneubuehl
„Waffentechnisches Handbuch“ von Rheinmetall
„Oerlikon Taschenbuch“ von Oerlikon-Bührle
Wiederladehandbücher von RUAG AMMOTEC, DEVA, H&N, SPEER usw.
Dralllängentabellen:
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